Lasst alle Hoffnung fahren

In den letzten Tagen habe ich von verschiedenen Leuten Mails bekommen, die meine durch und durch negative Einstellung beklagen. Was ich schreibe, sei perspektivlos. Zermürbend. Niederdrückend. Es wurde die Vermutung geäußert, dass ich unter Depressionen leide. Ich sei ein Miesmacher, Nihilist, Schwarzmaler und Misanthrop. Und so weiter.

Das ist alles richtig bemerkt. Ich bin der Geist, der stets verneint. Ich möchte weder mir noch anderen Hoffnungen machen. Das hat Methode. Absolute Hoffnungslosigkeit ist der einzige Ausweg aus dem Dilemma, in das sich die Menschheit zielsicher hineinmanövriert hat.

Mit den Hoffnungen wird nämlich weit mehr aufgegeben als bloß irgendein Schimmer am Horizont. Wer alle Hoffnungen aufgibt, muss die Welt nicht mehr retten, kehrt aus dem kollektiven Bewusstsein in sein individuelles zurück und darf wieder er selbst sein. Wer alle Hoffnungen aufgibt, bringt die fremden Stimmen in seinem Bewusstsein endlich zum Verstummen. Was für eine Erleichterung!

Wer die Welt nicht mehr retten muss, hört auf, sie kontrollieren zu wollen. Und das ist es, was die Welt und die Menschen am dringendsten brauchen: der Verzicht auf Kontrolle. Der Verzicht auf den Glauben an die Machbarkeit. Der Verzicht auf Allmacht und Gottgleichheit.

Ich gebe die Zügel aus der Hand und nehme die Karotte vor der Nase weg. Und siehe da, das Pferd bleibt stehen und fängt an zu grasen. Wer hätte das gedacht?

Zusammen mit den Hoffnungen stirbt das Über-Ich, das einem ständig mit du sollst …, du musst …, du darfst nicht … die Ohren voll labert. Zusammen mit den Hoffnungen stirbt der inkarnierte Kontrollmechanismus, der den eigenen Lebenswillen lähmt und aushöhlt. Es stirbt die Instanz, die Menschen dazu bringt, sich in den Dienst von anderen zu stellen statt sich um ihr eigenes Wohl zu kümmern.

Dieses Über-Ich ist eine Erfindung aus der Bronzezeit. Es stammt aus der Zeit der ersten Imperialisten und Weltherrscher. Aus der Zeit der Sonnengötter und Pharaonen. Den Göttern in den Mythen und Religionen entsprechen in der Struktur des kollektiven Bewusstseins die durch Könige, Priester und Gesetzgeber verkörperten Über-Ichs. Der allmächtige Gott ist identisch mit dem vereinheitlichten Über-Ich, das sich absolut setzt und über das Leben triumphiert.

Dieses Über-Ich gibt sich vernünftig und rational, dabei ist es weitaus irrationaler als das Es und das Ich. Es ist nichts anderes als der kollektive Größenwahn derjenigen, die über Menschen, Tiere und Pflanzen herrschen wollen. Der Gipfelpunkt aller Irrationalität besteht ja eben gerade darin, sich über die Anderen zu stellen. Selig diejenigen, die arm an diesem Geiste sind.

Hinter dem Über-Ich verbirgt sich ein fremder Wille. Über die Schiene eines gemeinsamen Erzählguts dringt dieser fremde Wille ins individuelle Bewusstsein ein, reißt es auf und bringt die Menschen dazu, das Fremde mit dem Eigenen zu verwechseln. Dieser fremde Wille ist ein Parasit. Er hat die Absicht, auf Kosten dessen zu leben, in den er eindringt.

Das Alphamännchen im Tierreich lebt aus seinem eigenen Vermögen heraus und gibt seinen Überschuss an Lebensenergie an schwächere Mitglieder der Gruppe ab. Der König, der das Über-Ich für alle sichtbar verkörpert, oder der Gott, der dasselbe auf unsichtbare Weise tut, zieht jedoch Lebensenergie von anderen ab, um sie auf sich zu vereinigen. So entsteht bei allen, die von einem Über-Ich besetzt werden, ein Mangel an Energie. Dieser Mangel ist es, was uns zutiefst prägt. Deshalb glauben wir nur allzu bereitwillig, dass demnächst überall die Lichter ausgehen und das Leben im Schlaraffenland ein Ende hat.

Der Priester als Mittler Gottes ist eine andere Variante des Parasiten.

Götter, Könige und Priester sind zeitgleich auf den Plan getreten. Das kann gar nicht anders sein, denn sie entsprechen einander, agieren nur auf unterschiedlichen Ebenen. Der König agiert in der Realität, Gott auf der Ebene des Mythos oder der Erzählung. Der Priester agiert auf der Ebene der Realität als Diener des fiktiven Gottes. Tatsächlich fallen sie aber in eins. Götter, Könige und Priester sind Räuber. Sie rauben die Lebensenergie derjenigen, die bereit sind, über den Weg eines gemeinsamen Erzählguts (Mythos) einen anderen Willen über den eigenen zu setzen und als Über-Ich zu inkarnieren.

Heute sind es nicht mehr die Götter, Könige und Priester, auf die sich das Parasitentum beschränkt. Im Laufe der Zivilisationsgeschichte hat sich der Parasit milliardenfach geteilt und sich in immer neuen Wellen tiefer und tiefer ins kollektive Bewusstsein und damit ins Bewusstsein jedes Einzelnen eingenistet. Teilung heißt Fragmentierung. Der Parasit zerfällt in immer kleinere Bruchstücke, von denen sich immer mehr im kollektiven Bewusstsein und im Über-Ich ansammeln.

Immer noch gibt es Herrscher und Sklaven, aber nur noch selten findet man sie in Reinkultur. Stattdessen verbreitet sich der Typus des Herrschersklaven. Das ist ein Mensch, der auf Kosten der Gesellschaft leben will, von der er jedoch gleichzeitig auch ein Teil ist. Statt bei sich zu bleiben und das eigene Vermögen zu entwickeln, zerrt man lieber an den Anderen herum und versucht, bei denen was abzuzwacken. Anderen was aufzudrängen, was sie nicht brauchen, und wegzunehmen, was man selber brauchen kann, darum geht es in der Werbung und im Marketing. Im Endeffekt führt die Entwicklung dahin, dass jeder auf Kosten des anderen lebt. Natürlich wird das so nicht gesagt. Stattdessen versichern wir uns gegenseitig, dass wir gemeinsam die Welt retten.

Es macht einen Unterschied, ob jeder aus seinem eigenen Vermögen heraus lebt oder auf Kosten von anderen. Wo jeder aus seinem eigenen Vermögen heraus lebt, regiert die Vielfalt. Die Lebensenergie korrspondiert mit dem eigenen Lebenswillen. Einige haben einen sehr starken Lebenswillen, andere einen weniger stark ausgeprägten und bei manchen ist er so schwach, dass sie aus eigener Kraft nicht überlebensfähig sind. Wenn ein Individuum über mehr Energie verfügt, als es selber braucht, kann es davon an andere abgeben oder sich ein Schloss oder einen Porsche kaufen.

Wo jeder auf Kosten von anderen lebt, regiert die Vereinheitlichung. Es läuft darauf hinaus, dass letzten Endes jeder gleich viel Energie zur Verfügung hat, ganz egal, was in ihm angelegt ist. Die Lebensenergie ist nicht länger Ausdruck des eigenen Lebenswillens. Ein starker Lebenswille wird von den Anderen gestutzt, ein schwacher Lebenswille wird gestärkt. Jeder gleicht sich den anderen an, solange, bis alle Unterschiede eingeebnet sind. Mark Zuckerberg ist nicht mehr von Jim Knopf zu unterscheiden. Wo der Herrschersklave noch ein Sklavenherrscher ist, gibt er sich hemdsärmelig und leutselig und tut so, als wäre er allen anderen gleich.

Wenn jeder auf Kosten anderer lebt, braucht es zudem eine Organisationsstruktur, die als solche eine Menge Energie verschlingt. Die Energie muss ja erst mal geraubt werden, was an sich schon ein Aufwand ist. Mit demselben Aufwand muss sie dann wieder verteilt werden. Kommt noch hinzu, dass durch diese Umverteilung auch eine Menge Energie sinnlos im Nichts verpufft, denn ein solches Verteilungssystem läuft ja nicht reibungslos. Je gleichmäßiger verteilt wird, desto mehr Verwaltungsaufwand ist damit verbunden. Die Umverteilung ist der Grund dafür, dass die Bürokratie immer ausufernder und der Verwaltungsapparat immer schwerfälliger wird.

Wo jeder auf Kosten von anderen lebt, muss der Einzelne insgesamt also weit mehr Energie aufbringen, als wenn er aus eigenem Vermögen heraus lebt. Säugetiere unserer Größe, die im Gegensatz zu uns Menschen aus eigenem Vermögen heraus leben, liegen meist irgendwo entspannt herum, wenn sie nicht gerade mit Wiederkäuen oder Balzen beschäftigt sind.

Das Defizit, das durch den Parasiten namens Über-Ich entsteht, puffern wir bis heute mehr schlecht als recht durch die Technisierung ab. Doch obwohl wir immer mehr Technik zur Verfügung haben, die uns immer mehr Arbeit abnimmt, klagen immer mehr Leute über Stress im Beruf und Burnout. Der Mechanismus der Umverteilung frisst mehr Humankapital, als durch die Technisierung freigesetzt wird. Dennoch ist die Technisierung ein geschickter Schachzug des Parasiten. So wird uns Menschen suggeriert, dass wir die Welt im Griff haben, während wir vom Parasiten fremdgesteuert werden.

Das Einfallstor für diesen Parasiten, der als Über-Ich den Lebenwillen des Einzelnen kontrolliert, sind die Hoffnungen. Mit dem Glaube an Götter werden ebenso Hoffnungen verbunden wie mit der Ehrfurcht vor Königen, Konzernchefs oder Politikern. Die Hoffnung, dass die Gesellschaft es schon richten wird oder dass wir die Welt retten, wenn nur alle am selben Strick ziehen, ersetzt aufgrund der dem Prozess immanenten Fragmentierung heute den Glauben an Götter und Könige.

Dem Über-Ich kann man am besten begegnen, wenn das Einfallstor geschlossen und alle Hoffnungen ersatzlos in den Wind geschossen werden. Leider wird man sich, wenn man das tut, auch der immensen Verwüstungen und Zerstörungen bewusst, die dieser Parasit nicht nur in den Köpfen und Seelen, sondern auch in der Natur und den Ökosystemen schon angerichtet hat. Über den technisch-kommerziellen Komplex hat der Parasit die Welt längst unterjocht und in Besitz genommen. Über Big Data saugt er die Menschen weiter aus.

Das Über-Ich gibt sich, schlau wie es ist, erst dann als Parasit zu erkennen, wenn es bereits viel zu spät ist, um noch irgendwas zu retten. Falls sich ein Leser jetzt doch Hoffnungen gemacht hat, muss ich ihn leider enttäuschen. Es ist zu spät. Der Zug ist abgefahren. Wir können die Welt nicht mehr retten. Nicht mal dann, wenn wir uns keine Hoffnungen mehr machen.

Augustinus sagte einst: Liebe und tu, was du willst. Ich sage: Lasst alle Hoffnung fahren und tut, was ihr wollt. Es kommt im Endeffekt aufs selbe raus.